Politisch klare Kante und viel Pharmazie
(Münster, 19. März 2023) Spannende Keynotes zu aktuellen Themen der Zeit, intensive Workshops, 30 Fachaussteller, informative Fachvorträge und eine politische Eröffnung, die es in sich hatte: Über 600 Apothekerinnen und Apotheker, Pharmaziestudierende, PTA und weitere interessierte Fachbesucher haben den gerade zu Ende gegangenen neunten Westfälisch-lippischen Apothekertag (WLAT) im Messe und Congresszentrum Halle Münsterland besucht und nach zwei Tagen jede Menge spannende Infos mit nach Hause genommen. Über 250 Teilnehmer*innen haben die Keynotes zudem digital am heimischen Bildschirm aus verfolgt. „Es war wieder ein grandioser Kongress“, resümierte Frank Dieckerhoff, Vizepräsident der Apothekerkammer Westfalen-Lippe. Die Kammer richtet den Kongress alle zwei Jahre aus. „Wir haben gesehen, dass viele Kolleginnen und Kollegen nach drei Jahren endlich wieder zusammenkommen wollten, sich austauschen und gemeinsam fortbilden. Mit einer so großen Teilnehmerzahl sind wir damit erneut der größte regionale Apothekertag im deutschsprachigen Raum.“
Auftakt-Keynote mit Alena Buyx
Begonnen hatte der WLAT-Samstag mit einer inspirierenden Keynote von Professorin Alena Buyx. Die Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der TU München und Vorsitzende des deutschen Ethikrats begeisterte das Publikum mit ihrem Vortrag über die Lehren, die man aus der Corona-Pandemie ziehen könne und müsse. Zu den zentralen Erkenntnissen zähle, dass die Gesellschaft verstehen müsse, dass es in einer solchen existenziellen Krise „immer um Güterabwägungen geht“, so Alena Buyx. „Es gibt nie nur den einen einzigen richtigen Weg. Sie müssen das kleinere Übel finden.“ Wenn man beispielsweise über die Frage entscheide, ob man den Einzelhandel oder die Gastronomie stärker belaste, „können Sie es nie gut, nie gerecht machen. Irgendwer verliert immer“, so Buyx. „Gleichermaßen wichtige Güter müssen abgewogen werden. Das ist anstrengend und belastend für Gesellschaften.“ Abzuwägen auch Maßnahmen, welche die Freiheit einschränken. Aber: „Die individuelle Freiheit von allen muss berücksichtigt werden. Manchmal hat man jedoch den Eindruck, dass es manchem am liebsten wäre, man müsste nicht über die nervigen anderen nachdenken.“
Kuck: „Das war ein Tiefschlag.“
Klare Worte fanden beim politischen Auftakt des neunten Westfälisch-lippischen Apothekertages Kammerpräsidentin Gabriele Regina Overwiening und Dr. Michael P. Kuck, Vorstandesvorsitzender des pharmazeutischen Großhandels Noweda, zur aktuellen Gesundheitspolitik von Gesundheitsminister Lauterbach – moderiert von Oliver Pauli. „Anstelle des Dankes und der Wertschätzung gegenüber unserem Berufsstand, der die Herausforderungen der Pandemie hervorragend gemeistert hat, gab es eine Erhöhung des Kassenabschlags“, ärgerte sich Overwiening, „das ist der Horror. Die Apothekenteams sind zum Teil am Ende ihrer Kräfte und halten sich doch aufrecht, weil sie die Patientinnen und Patienten weiter versorgen wollen.“
Die Erhöhung des Kassenabschlags sei eine faktische Honorarkürzung für die Apotheken vor Ort. Kuck bewertete das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz unmissverständlich: „Das ist ein Tiefschlag.“ Er verstehe, dass man sparen müsse, aber: „Warum spart man nicht vernünftig? Wenn man den gesetzlichen Krankenkassen verbieten würde, Werbung zu schalten und Geld für Image-Kampagnen auszugeben, würde man dieselbe Summe sparen, die nun den Apotheken fehlt.“ 80 Millionen Euro Versichertengelder gäben die Kassen aktuell pro Jahr für diese Maßnahmen aus. Das zu verbieten „würde keinem Patienten schaden, keine Apotheke treffen“. Kuck weiter: „Die GKVen bekommen doppelt so viel Geld für reine Verwaltung wie die Apotheken für den Dienst am Patienten. Brauchen wir in dieser Situation 100 Krankenkassen? Da geht es nicht um Kleingeld, sondern um über 12 Milliarden Euro.“
Overwiening betonte, dass sie weiterhin dafür kämpfe, die durch die Corona-Pandemie erlangte „Beinfreiheit“ dauerhaft zu erhalten: Patienten sollten mehrere Wege in die Apotheke oder Arztpraxis erspart bleiben, wenn ein verordnetes Arzneimittel nicht vorrätig oder verfügbar war. Um die Versorgung dennoch sicherzustellen, erhielten die Apotheken weitgehende Ausweichmöglichkeiten – in eigener Verantwortung. „Es sind die Erleichterungen aus der Pandemie, die es uns überhaupt ermöglichen, die Patientinnen und Patienten trotz Lieferengpässen zu versorgen.“ Noch habe sich die Politik nicht dazu durchgerungen, die Regeln zu verstetigen, aber immerhin soll eine Gesetzesänderung die Regeln bis Ende Juli 2023 erhalten. „Das haben Sie Frau Overwiening quasi im Alleingang erreicht“, lobt Kuck seine Mit-Diskutantin.
Die Lieferprobleme ließen auch den Großhandel nicht kalt: „Auf dem Höhepunkt der Nicht-Lieferbarkeit von Fiebersäften für Kinder hatten wir offene Nachfragen von 560.000 Packungen.“ Es sei schlimm, wenn man dann nur sagen können: „Sorry, wir haben nichts.“ Noweda-Chef Kuck adressierte abschließend Minister Karl Lauterbach direkt: „Die Arzneimittelversorgung in Deutschland ist sträflich unterfinanziert.“ Kuck weiter: „Solange Herr Lauterbach das nicht anpackt, wird er seiner Verantwortung für die Arzneimittelversorgung in diesem Lande nicht gerecht.“
Bernhard Pörksens fünf Prinzipien der Kommunikation
Die Kraft von Kommunikation in Zeiten von Fakenews und Desinformation stellte Professor Bernhard Pörksen in seiner Keynote zur „Kunst des Miteinaner-Redens“ heraus. Zu den verschiedenen zu beachtenden Prinzipien gehöre auch das Prinzip der respektvollen Konfrontation. „Auch in Ihrem Beruf ist es manchmal nötig, Menschen respektvoll zu konfrontieren“, wandte sich der Medienwissenschaftler aus Tübingen direkt an die Apothekerschaft im Saal“, zum Beispiel wenn Sie jemanden vor sich haben der sagt, dass Impfungen nichts bringen und dass hinter allem Bill Gates oder eine finstere Macht steht.“ Dann müsse man Menschen konfrontieren. „Man muss sagen, was zu sagen ist, darf sich nicht wegducken und die Position des Gegenübers konfrontieren, aber nicht den ganzen Menschen.“
Neue pharmazeutische Dienstleistungen: gesundheitspolitischer Quantensprung
Im Fokus des Kongresses standen auch die fünf neuen pharmazeutischen Dienstleistungen, die Apotheken seit Mitte 2022 anbieten und abrechnen dürfen. Ganz gleich ob Medikationsberatung bei Polymedikation, die Beratung zur Anwendung von Asthma-Inhalatoren, die pharmazeutische Betreuung von Krebspatienten und Patienten mit Spenderorgan oder die Risikoerfassung bei Bluthochdruck-Patienten: Es sei wichtig, diese Dienstleistungen in den Apotheken vor Ort zu implementieren, so das Fazit der Vorträge. Auch Kammerpräsidentin Overwiening betonte die Bedeutung der neuen Angebote für das Leistungsspektrum der Vor-Ort-Apotheken: „Erstmals dürfen wir Dienstleistungen selbst auslösen. Das ist ein gesundheitspolitischer Quantensprung.“
PTA-Fortbildungen und Filialleiter*innentag
Beim WLAT wurden außerdem neben Apotheker*innen auch die Filialleiter*innen und PTA gezielt mit Fortbildungsangeboten adressiert: Während sich am Sonntag die Filialleiter mit rechtlichen Fragen, Team-Work und dem Einsatz künstlicher Intelligenz in der Apotheke beschäftigten, stand der Samstag ganz im Zeichen der PTA-Fortbildungen: Die PTA setzen sich mit Themen wie der Beratung von Diabetes-Patienten und mit Arzneimittelwechselwirkungen auseinander.
Downloads
[Saal_Poerksen.jpg] | JPG (4252x2392 px) | 7,5 MB
[Pauli_Kuck_Overwiening_01.jpg] | JPG (4093x2728 px) | 755 KB
[Ovewiening_Buyx.png] | PNG | 116 KB
[Ovewiening_Buyx.jpg] | JPG (4250x2833 px) | 4,4 MB